„Klima und Arbeit versöhnen – Impulse für einen klimaneutralen Umbau der Wirtschaft“ – Interview mit Rainer Thiel

Aufgrund der hohen Aktualität des Themas „Strukturwandel im Rheinischen Revier“ und wegen vieler Nachfragen kann das Interview mit Rainer Thiel, das Anfang 2021 im Buch „Klima und Arbeit versöhnen – Impulse für einen klimaneutralen Umbau der Wirtschaft“ erscheinen wird, hier vorab gelesen werden:

Klaus Kost (KK): Wie erlebst du den beschleunigten Strukturwandel im Rheinischen Revier?

Rainer Thiel (RT): Es ist wie die Ruhe vor dem Sturm, die Region verharrt in Schockstarre oder geschäftiger Betriebsamkeit. Noch laufen die Kraftwerke und in den Tagebauen wird fleißig gearbeitet. Aber schon Ende dieses Jahres geht es los. Der Ausstieg aus der Kohleverstromung in Deutschland beginnt hier im Rheinland. Mit den Kraftwerksstilllegungen verschwinden tausende gut bezahlte Arbeitsplätze. „Gute Arbeit“, wie es heißt, und keine prekären Mini-Jobs oder befristete Leih- oder Saisonarbeiter im Niedriglohnsektor. Nein, tarifgebundene und von Betriebsräten geschützte Arbeits- und Ausbildungsplätze. Manchen ist das egal, ihre Angst vor dem Klimawandel ist größer. Aber viele Menschen hier verlieren ihre Existenzgrundlage und ihre Würde. Sie haben Jahrzehnte für Energiesicherheit gesorgt, dafür, dass Deutschland jederzeit bezahlbaren und verfügbaren Strom hat. Dafür gebührt ihnen Anerkennung. Sie waren eine Voraussetzung für die Wohlstandsfähigkeit unserer Industriegesellschaft und damit für den sozialen Zusammenhalt. Das darf man nicht vergessen! Und es geht ja weiter mit dem Arbeitsplatzabbau. Auf einen Arbeitsplatz in der Industrie kommen drei weitere in anderen Bereichen, bei Zulieferern und Dienstleistern. Der Strukturwandel, der jetzt herbeigeführt wird, beginnt hier und jetzt und trifft unsere Region härter als anderswo. Ein Problem ist ja auch, dass die guten Arbeitsplätze, die hier wegfallen, nicht ohne weiteres hier neu entstehen, wenn überhaupt. Wir müssen nun dafür sorgen, dass hier neue gute Arbeit angesiedelt werden kann.

KK: Du hast gerade schon den Wettbewerb mit den anderen um „gute“ Arbeitsplätze angesprochen. Wie siehst du denn das Rheinische Revier im Wettbewerb und im Vergleich zu den anderen beiden deutschen Braunkohleregionen, dem Mitteldeutschen und dem Lausitzer Revier?

RT: Da muss man mehrere Ebenen unterscheiden. Das Rheinland hat eine starke Wirtschafts- und Industriestruktur. Wir sind sicherlich derzeit die wirtschaftlich stärkste Region in Deutschland mit großen Chemiebetrieben, Autobauern, Häfen, Aluminiumwerken, bedeutenden Logistikern, einem starken Mittelstand, ein Wissensstandort mit zahlreichen Hochschulen, Medienstandorten, Metropole Strukturen mit Köln und Düsseldorf, Aachen und Mönchengladbach sowie weiteren Großstädten und Kreisen, insgesamt über 8,9 Mio. Einwohner. Mittendrin liegt das Rheinische Revier, dass mit seinen Tagebauen und Kraftwerken lange Zeit die Landschaft geprägt hat. Das kann man so sicherlich nicht mit der Lausitz und Brandenburg vergleichen. Darum soll ja auch der Ausstieg hier beginnen. Allerdings ist die ökonomische und politische Fallhöhe hier auch eine dramatisch andere. Die zahlreichen energieintensiven Betriebe sind in unserer Region, weil es hier die Kraftwerke gibt. Das ist ein „ökonomisches Biotop“, das empfindlich auf Eingriffe reagiert.

KK: Zum Kohleausstieg gehört ja auch Strukturförderung durch den Bund und das Land, das soll doch einen Strukturbruch verhindern.

RT: Wenn man sich das jetzt verabschiedete Strukturstärkungsgesetz anschaut, dann fällt auf, dass hier der Ausstieg zwar beginnt, aber hier bei uns erst einmal wenig Konkretes neues stattfindet. Eine Antwort für die jetzt hier wegfallenden Arbeitsplätze gibt dieses Gesetz nicht, die bisher identifizierten Projekte und Maßnahmen haben eine große „Flughöhe“, sie sind eher wissenschafts- und forschungslastig.

Der Kohleausstieg wirft natürlich viele sehr grundsätzliche Fragen für unsere Industrie- und Wirtschaftsregion auf, für das Funktionieren unserer gesamten Infrastruktur und Energieversorgung für Millionen Menschen im dichtbesiedelten Raum. Kann unsere Region wettbewerbsfähig bleiben? Die Kolleginnen und Kollegen aus den Chemiebetrieben sehen sorgenvoll auf das Abschalten gesicherter Leistungen. Eine auch nur kurze Stromunterbrechung – z. B. in der Dralon-Herstellung – hätte dramatische Folgen. Die Aluminiumindustrie kämpft derzeit um ihre Wettbewerbsfähigkeit, also ums Überleben an diesem Standort, da zählt jeder Cent an Stromkosten. Billiger wird es wohl nicht. Mit der Bundeskanzlerin wurde vor gar nicht langer Zeit hier eine neue Automotive Linie für die Aluminiumverarbeitung eingeweiht. Die Autobauer und vor allem Autozulieferer sind aber nun am Beginn einer großen Strukturkrise. Ebenfalls eingeleitet in Berlin. Wir brauchen daher jetzt Antworten, ob das alles auch so funktioniert, aus zwei gesicherten Stromversorgungssystemen gleichzeitig auszusteigen – nämlich Atom und Kohle – und trotzdem jederzeit genügend und bezahlbaren, also wettbewerbsfähigen Strom zu haben. Großspeicher im industriellen Maßstab gibt aber es bislang nicht. Bei Wasserstoffanwendungen ist es ähnlich. Von den Kosten ganz zu schweigen. Manch einem beschleicht da ein mulmiges Gefühl. Zumal es immer mehr Verstromungen bei den Anwendungen gibt, wie z. B. bei der Mobilität. Im Ausland ernten wir eher Kopfschütteln, da folgt uns bisher niemand, dass lässt für die Wettbewerbsfähigkeit nichts Gutes erwarten.

KK: Da soll das Strukturstärkungsgesetz doch ansetzen. Immerhin gibt die Bundesregierung bis 2038 bis zu 40 Milliarden dafür aus, den Strukturwandel erfolgreich zu gestalten.

RT: Wenn man sich die im Gesetz festgehaltenen Maßnahmen anschaut, dann fällt auf, dass die Vertreter aus den Kohleregionen in Brandenburg und der Lausitz bereits jetzt zahlreiche konkrete Ergebnisse erzielt haben, was Investitionen in Infrastruktur, insbesondere beim Verkehr, betrifft. Strukturwandel braucht nämlich zuerst Flächen und Infrastruktur. Bei uns in der Region kommt vorerst wenig an – hier in Grevenbroich Neurath derzeit gar nichts. Man hat den Eindruck, dass das Land NRW lange nicht erkannt hat, wie wichtig konkrete Infrastrukturmaßnahmen für die Zukunftsfähigkeit der Region letztlich sind. In letzter Minute ist, gerade auf Druck der regionalen SPD-Vertreter, noch die Revier-S-Bahn ins Gesetz gekommen. Aber es geht ja auch um neue, große Flächen für neues Gewerbe.

KK: Das heißt, du wünschst Dir, dass die Landespolitik von NRW den Strukturwandel zukünftig effektiver und schneller voranbringt?

RT: Genau. Wir wissen spätestens seit 1995 mit der damaligen Leitentscheidung der ersten rot-grünen Landesregierung, dass ein Strukturwandel im Rheinischen Revier ansteht. Wir haben als SPD vor Ort bereits 1997/98 Projektgruppen mit Betriebsräten der Energiebetriebe, Vertreter der Staatskanzlei, aus der Chemie und der Konzernspitze des RWE dazu initiiert. Die Ergebnisse wirken bis heute nach. Es war ja klar, etwa 2045 wäre die Braunkohleverstromung und -gewinnung sowieso ausgelaufen. Die rot-grüne Landesregierung hat 2010 die „Innovationsregion Rheinisches Revier (IRR)“ ins Leben gerufen, um die Region darauf vorzubereiten. 2015 hat Rot-Grün im Landtag NRW die Leitentscheidung für Garzweiler II angepasst und den Tagebau verkleinert. Da war ebenfalls klar, dass der Tagebau in Nordrhein-Westfalen in der Abwicklung steht und bis ca. 2045 schrittweise ausläuft. Das ergibt sich aus den genehmigten Mengen zum Kohleabbau zur Verstromung, eine zeitliche Begrenzung gab es nicht. Jetzt sieht das „Kohleausstiegsgesetz“ als verbindliches Ende 2038 vor. Die jetzige schwarz-gelbe Landesregierung hat 2017 aus der IRR die ZRR „Zukunftsagentur Rheinisches Revier“ gemacht. Man brauchte was Eigenes, denn die IRR war ja eine sozialdemokratische Idee. Zwar gab die schwarz-gelbe Landesregierung der ZRR einen neuen Namen, aber es gab kein Konzept, keine Strategie für einen vorbeugenden Strukturwandel, keine Visionen. Erst jetzt wird damit begonnen.

KK: Aber Strukturwandel ist doch ein ständiges Thema, gerade doch in der Landespolitik in NRW von großer Bedeutung, genauso wie der Klimaschutz.

RT: Die schwarz-gelbe Landesregierung hat Rot-Grün immer heftig für das Klimaschutzgesetz, für die Leitentscheidung zu Garzweiler II, für den Landesentwicklungsplan (LEP) u.a.m. attackiert und uns Industriefeindlichkeit vorgeworfen. Rot-Grün wollte den kommenden Wandel früh gestalten und hat um die besten Lösungen gerungen,in der Energiepolitik, beim Klimaschutz und auch in der Frage der Zukunft der „Leitbranche Chemie“ in NRW. Schwarz-Gelb wollte den Wandel immer nur aufhalten. So stand die Landesregierung schlecht vorbereitet da, als in Berlin der Ausstieg verhandelt und beschlossen wurde. Nun soll die ZRR es richten. Die Zukunftsagentur Rheinisches Revier soll konkrete Projekte auf den Weg bringen und förderfähig machen. Sie hat sich dafür eine Arbeitsstruktur und ein Wirtschafts- und Strukturprogramm gegeben. Das ist sicher eine gute Ausrichtung, allerdings steht die eigentliche Arbeit ziemlich am Anfang. Die Landesregierung hat nicht in dem Maße wie es notwendig gewesen wäre, die Politik in Berlin beeinflusst oder selbst Beiträge geleistet. Nehmen wir das Beispiel S-Bahn: Wir wollen seit vielen Jahren die S-Bahn Infrastruktur weiterentwickeln, so dass bestehende Linien neu vernetzt und Regio-Bahnen umgewandelt sowie alte Verbindungen, die durch den Tagebau gekappt wurden, wieder aufgebaut werden. Die Notwendigkeit von solchen Nord-Süd- und Ost-West-Verbindung ist seit Jahren offenkundig. Dennoch zeigte sich die schwarz-gelbe Landesregierung mehr als zögerlich und musste massiv gedrängt werden, eine „Revier-S-Bahn“ ins Strukturstärkungsgesetz aufzunehmen. Oder ein anderes Beispiel: Wir brauchen dringend Flächen, auf denen „Neues“ geschehen kann. Die Kraftwerke stehen ja noch lange auf ihren Standorten und auch ein Rückbau dauert. Die Tagebaue müssen ordentlich zu Ende gebracht werden, nach Abschluss rekultiviert und eine neue Landschaft muss gut entwickelt werden. Alles andere wäre einen Katastrophe für unsere Region. Allerdings benötigen wir schon heute neue Standorte, auf denen neue Arbeitsplätze entstehen können. Dennoch ist bisher kaum etwas passiert. Es gibt eine große landesbedeutsame Entwicklungsfläche bei Grevenbroich / Rommerskirchen, die im LEP (Landesentwicklungsplan) aufgeführt ist. Da wäre das Land in der Verantwortung, zusammen mit der Region, ein Entwicklungskonzept zu erarbeiten. Wir hatten 2017 gerade damit begonnen, das Thema anzugehen. Die neue Landesregierung hat das leider nicht aufgegriffen. Dabei wäre das eine Chance für eine Ansiedlung einer großen internationalen Batteriezellenfertigung hier.

KK: Ich würde gerne noch einmal näher auf deine Bewertung der Politik der NRW-Landesregierung eingehen. Du warst ja selbst längere Zeit im Landtag für die SPD tätig. Wurde es aus deiner Sicht aufgegeben, den Strukturwandel sozialverträglich zu gestalten? Es gab ja auch lange Zeit das Postulat, den Strukturwandel „ökonomischökologisch“ zu gestalten. Siehst du das aufgegeben?

RT: Während meiner Zeit im Landtag war ich Sprecher der SPD für den Klimaschutzplan und die Finalisierung des LEP, der sich mit den Rahmenbedingungen bei der Raumordnung, also mit großen Flächen und Infrastruktur, Siedlungsentwicklung und Freiraum und Klimafolgeanpassung befasst. NRW hat unter der rot-grünen Landesregierung als erstes Bundesland und als größtes Industrieland Klimaschutz gesetzlich verbindlich verankert. Ziele, die auch erreichbar waren für uns als Industrieland. Es war immer ein Ringen zwischen Rot und Grün, gerade um die Frage, ob neben dem ökologischen Ziel des Klimaschutzes soziale und wirtschaftliche Belange gleichgewichtig sind. Es ging ja um die Umsetzung der Ziele, das wird ja meist übersehen. Also ob man die Umsetzung sozialverträglich und wirtschaftlich verantwortlich hinbekommt. Der damalige Entschließungsantrag der SPD-Landtagsfraktion und Bündnis 90/Die Grünen zum Klimaschutzplan ist meines Erachtens heute noch wegweisend. Gerade wegen des darin verankerten Prinzips der Nachhaltigkeit des Weges zum Klimaschutz. Das hätte ich mir bei den Berliner Beschlüssen zum Kohleausstieg auch gewünscht. Zwischenzeitlich dominiert absolut die Maxime CO2 einzusparen, um das Klima zu schützen. Der Weg dahin ist aber kein innovativer Technologiewettbewerb, sondern ein Ausstiegsszenario jagt das andere. Mir wird zu viel ausgestiegen und zu wenig in neues eingestiegen. Wir brauchen dringend ein gleichgewichtiges Dreieck zwischen der ökonomischen, der ökologischen und der sozialen Seite bei der Umsetzung der Klimaschutzziele. Wenn man auch nur eine Seite nicht ausreichend beachtet oder eine Seite dominiert, dann wird das nichts. Manche meinen, es reicht, wenn das Ziel ein gutes ist, der Weg ist ihnen dann egal, vor allem, wenn es andere trifft, die dann den Preis bezahlen.

Bei der jetzigen Landesregierung ist dazu keine klare Handlungsrichtung zu erkennen, stattdessen gibt es einen bunten Strauß von Ideen und Gedanken, aber keine Antworten auf die offenen Fragen z. B. der Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit des Rheinlandes mit seinen zahlreichen energieintensiven Betrieben.

KK: Ich würde gerne noch ein bisschen weiter in Richtung Klimawandel und Klimaschutz gehen. Du hast uns ja schon viel Input geliefert, dennoch möchte ich fragen: Welche Rolle spielt der Klimawandel beim Strukturwandel und bei den Beschäftigen?

RT: Die Bundesregierung hat auf Empfehlung der von ihr eingesetzten „Kohlekommission“ mit dem schönen Namen „Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung (WSB)“ beschlossen, aus der Kohlverstromung auszusteigen, um ihre Klimaschutzziele noch erreichen zu können. Letztlich geht es um den Ausstieg aus fossiler Energiegewinnung überhaupt, weil der damit verbundene CO2-Ausstoß als hauptverantwortlich für den Klimawandel gilt. Auch andere Themen der CO2-Vermeidung in der Mobilität, beim Verbrauch, der Landwirtschaft, bei Wohnen und Wärme und der Ressourcenschonung werden vorrangig am Ziel des Klimaschutzes ausgerichtet. Der dadurch eingeleitete Strukturwandel ist daher klar ein politisch eingeleiteter Wandel. Die davon betroffenen Beschäftigten fragen sich allerdings schon, was denn ihre Perspektive dabei ist. Wir dürfen es nicht zulassen, dass eine weitere Kluft in unserer Gesellschaft entsteht, zwischen denen, die Klimaschutz als das Wichtigste sehen oder davon profitieren, und denen, die den Preis dafür bezahlen. Klimaschutz ist ja mittlerweile ein riesiges Geschäft geworden, aber nicht für jeden. Also der Treiber der Politik ist derzeit klar der Klimaschutz. Aber wir wissen doch seit dem „Club of Rome“, dass es ganz wesentlich um die Grenzen des Wachstums und um Nachhaltigkeitsthemen geht. Wir müssen wieder mehrdimensionaler und vernetzter beim Denken und Handeln werden. Seit 50 Jahren wissen wir, dass vernetztes und mehrdimensionales Denken und dabei technikoffen bei der Zielerreichung zu sein, dass das der Ansatz ist, aus der Falle ewigen Wachstums herauszukommen.

KK: Der „Club of Rome“ ist das Eine, aber du hattest jetzt auch das Nachhaltigkeitsdreieck „ökonomisch-ökologisch-sozial“ von der UN-Klimakonferenz in Rio de Janeiro angesprochen. Da hat man nicht nur oberflächlich Politik gemacht, sondern sich auch an Diskursen aus der Vergangenheit orientiert. Das leitet mich zur Gegenwart: Corona stellt uns vor die Situation, wo wir vier Krisen gleichzeitig haben: Wir haben die Wirtschaftskrise, die Pandemie, die Klimakrise und die Transformation. Wie geht man im Rheinischen Revier mit der Gleichzeitigkeit von vier Baustellen um?

RT: Bisher hatte das Rheinland ein prima Mittel gegen Krisen: den Karneval. Aber selbst der Karneval muss Corona Tribut zollen. Im Ernst, mit Covid-19 haben wir eine neue Dimension erreicht. Eine ganze Gesellschaft, ja fast die ganze Welt kam zeitweise zum Stillstand. Das ist unglaublich. Hier stand der Schutz von Leben der vom Virus bedrohten Menschen absolut im Vordergrund. Das war nicht immer so, dass ist eine große zivile Leistung. Covid-19 zeigt auch eine Seite der Globalisierung, nämlich wie verwundbar die ganze Welt ist, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Gleichzeitig zeigt der Wettlauf um den Zugriff auf einen Impfstoff auch, wie dünn das Eis der globalen Zusammenarbeit ist. Nationaler Egoismus rafft Zugriffsrechte auf Impfstoffe ohne jegliche Rücksicht. Die gleiche Rücksichtslosigkeit zeigt sich leider auch im globalen Kampf gegen den Klimawandel. Auch bei den globalen Lieferketten herrscht gnadenloser Wettbewerb um Märkte, Rohstoffe und nun auch Daten. Wir müssen uns fragen, wie wir jetzt vorgehen wollen? Was machen denn die anderen Staaten in der Welt? Schauen wir uns China, USA, Russland, Indien, Brasilien und England an. Diese und viele anderen Länder streben z. B. keine Energiewende an. Frankreich und andere sind bei der Digitalisierung auf einem ganz anderen Level als wir, da sind wir ganz hinten. Da ist eine Transformation der Industriegesellschaft in Deutschland hin zu einer kohlenstofffreien Welt extrem ambitioniert. Aber trotz alledem, wenn wir damit anfangen, dann aber bitte nachhaltig und nicht eingleisig.

KK: Und was bedeutet das Konkret für die Industriegesellschaft und das Rheinland in der jetzigen Situation, wo ist da der Ansatz?

RT: Das Thema Kreislaufwirtschaft ist aus meiner Sicht ein Schlüsselthema für eine nachhaltige Zukunft. Die Produktkreisläufe müssen endlich geschlossen werden. Es darf keinen Abfall mehr geben! Denken wir nur an die Vermüllung der Umwelt und Meere mit Mikroplastik und nicht abbaubaren Reststoffen. Die Enquetekommission zur Zukunft der Chemie in NRW, der ich angehören durfte, hat dazu bereits 2017 Wegweisendes erarbeitet. Wir wissen, der Abfall des einen ist der Rohstoff des anderen, aber wir müssen das endlich zusammenbringen. Beim Produktdesign muss das Lebensende des Produktes mit bedacht werden. Denken wir an Rotorblätter für Windräder, ein Massenprodukt, aber ein Verbundstoff, der extrem schwer wieder zu recyceln ist. Das zeigt, dass es noch viele Herausforderungen auf dem Weg in die Kreislaufwirtschaft gibt. Die Frage ist, kriegen wir das hin, dass unsere Wirtschaft so organisiert wird, dass sie ressourcenverträglich ist, „gute“ Arbeit bietet, von der die Menschen auch leben können, wettbewerbsfähig ist und den Planeten nicht belastet. Technologieoffenheit ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Also Kreisläufe schließen statt Quellen zu verstopfen. Unsere Industrie ist dabei wichtiger Teil der Lösung. Ausstiegspfade führen letztlich zu Wohlstandsabbau.

KK: Du hast jetzt die Globalisierung angesprochen. Da möchte ich die Brücke zum Rheinischen Revier spannen. Ist es so, dass die als Heilsbringer angesehenen Batteriefabriken nicht neue Abhängigkeiten mit sich bringen? Die Rohstoffe werden ja z. T. im Kongo unter schlimmsten Arbeitsbedingungen abgebaut. Tauschen wir da nicht eine Abhängigkeit durch eine Neue?

RT: Natürlich. Das ist ein Ergebnis der Globalisierung. Ich will den Fokus noch einmal auf die Arbeitsplätze lenken. Im Rheinischen Revier haben wir 9.000 direkte und ca. weitere 30.000 indirekte „gute“ Arbeitsplätze in der Energieindustrie. Die Art der Energiegewinnung durch die Braunkohle ist gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert, hat aber im weltweiten Vergleich im Rheinischen Revier einen hohen Standard erreicht. Die Art und Weise, wie die Rohstoffe in Afrika, Australien, Chile oder sonst wo in der Welt beispielsweise auch für Batteriefertigungen gewonnen werden, wird hier gerne ausgeblendet. Oder wie anderswo Kohle gewonnen und verstromt wird und der Strom dann „billig“ auf den entsprechenden Märkten verkauft werden kann. Mit dem Strukturwandel geben wir ja auch soziale Standards und „gute Arbeit“ auf, die konstituierend für unsere Gesellschaft waren. Weltweit kann man sehen, wie in Gesellschaften die auf einem anderen Level sind, mit politischen Gegnern oder der Pandemie, der freien Presse oder Arbeitnehmerrechten umgegangen wird. Zudem geht man anderswo hemmungslos wieder in neue fossile Rohstoffgewinnung rein. Es geht weltweit um Wohlstandsfähigkeit als Voraussetzung gesellschaftlicher Entwicklung, um ein Wohlstandslevel, dass für uns selbstverständlich ist. Wir müssen uns weltweit damit beschäftigen, wie das „Nachhaltigkeits-Dreieck“ umgesetzt werden kann. Man braucht eine Strategie. Aus meiner Sicht können wir uns dabei nicht aus der Industriegesellschaft verabschieden, sondern müssen diese – wie gesagt – weiterentwickeln.

KK: Kannst du das etwas deutlicher machen, worin das Problem besteht? Also bei den Zielen gibt es ja einen gesellschaftlichen Konsens. Du meinst die Wege dahin, die Umsetzung?

RT: Genau, ein Beispiel: Die Grünen sagen, dass die Mobilität batteriegetrieben sein muss und wollen Verbrenner verbieten. Das ist aus meiner Sicht zu kurz gesprungen, weil wir unsere Probleme in andere Regionen in der Welt verlagern und die CO2-Bilanzen insgesamt nicht besser werden. Eine kombinierte Mobilität mit Fahrrad und Bahn, geteilter Nutzung u.a.m., bei der dann die Verbrennungsmotoren so weiterentwickelt werden, dass sie so effizient werden, dass sie die Klimaziele endlich einhalten, das könnte ein Lösungsansatz sein, der verhindert, dass nach der Energiebranche auch die Autobranche zum „Aussteigen“ gezwungen wird. Meine Sorge ist, dass wir hier getrieben von einer Berliner Debattenkultur zu schnelle Schritte gehen, bevor die Voraussetzungen, die für eine erfolgreiche Umsetzung vorhanden sein müssten, erfüllt sind. Es fehlt auch der technisch offene Wettbewerb um die besten Lösungenzu vermeiden.

Wir könnten z. B. aus CO2 Kunststoff machen und damit andere Ressourcen, die erdölbasiert sind, ersetzen. Das ist noch nicht in einer Größenordnung denkbar, dass man das CO2-Problem lösen kann, aber ein Anfang. Da ist die Wissenschaft gefragt, Methoden zu entwickeln, die dann in die Anwendung gehen können. Beispiele gibt es doch viele, man muss lediglich dafür offen sein, technologieoffen eben. Und man muss sich um gesellschaftliche Akzeptanz kümmern und die Menschen mitnehmen. Ein Ansatz wäre Hoffnung zu wecken und Spaß an der Zukunftsgestaltung, statt Angstszenarien und Untergangskulissen zu malen.

KK: Damit sprichst du ja schon ein weiteres Thema von der UN-Klimakonferenz in Rio de Janeiro an: „Think global, act local“. Das leitet mich zum Begriff des „endogenen Strukturwandels“, einer Entwicklung aus der Region heraus, über. Da gibt es ja auch den bekannten Wirtschaftswissenschaftler Keynes, der mal von der destruktiven Kraft der Zerstörung geschrieben hat. Siehst du die im Rheinischen Revier?

RT: Keynes ist ja ein Stück Wirtschaftsgeschichte des letzten Jahrhunderts, aber aktueller denn je. Den Strukturwandel mit 40 Mrd. € zu fördern und die Folgen der Pandemie mit Wirtschaftshilfspaketen zu bekämpfen, das ist ja alles Keynesianische Politik. Die „Destruktive Kraft der Zerstörung“, nach Schumpeter „Die Konstruktive Zerstörungskraft des Marktes“, ist natürlich eine Metapher dafür dass das Alte zerstört wird weil was Neues entsteht. Eine makroökonomische Betrachtung aus großer Höhe auf das Marktgeschehen. Hier aber wirkt kein Markt, sondern politischer Wille. Das betrifft dann nicht abstrakte Marktteilnehmer sondern konkrete Menschen. Da hängen schließlich zahlreiche Familien und berufliche Existenzen und Betriebe dran. Dass wenn was wegfällt auch was Neues entsteht, das mag ja sein, aber vielleicht entsteht das Neue an einem anderen Ort oder auf eine andere Art und Weise oder nicht im gleichen Umfang, sodass es den Betroffenen nichts nützt. Wir haben im Rheinischen Revier die einmalige Chance, einen politisch beschlossenen Strukturwandel vorbeugend zu gestalten und nicht, wie das in der Stahlindustrie war, einem harten Strukturwandel wegen des Marktgeschehens und der Globalisierung ausgesetzt zu sein. Wir können handeln, sodass es am Ende nicht zur „Konstruktiven Kraft der Zerstörung“ oder einem Strukturbruch kommen muss. Wir müssen überlegen, wie die nächsten Schritte konkret aussehen können, damit hier in der Region weiterhin ein hohes Maß an Wohlstand herrschen kann.

KK: Ich würde gerne noch einmal bei dem politisch gewollten Strukturwandel einsetzen. Welche Alternativen müsst ihr Menschen bieten, die im bisherigen Strukturwandel ihre Arbeit verlieren? Und daran anknüpfend: Welche Weichen müssen gestellt werden, um zu verhindern, dass am Ende die Region abstürzt und die Menschen aus der Region fliehen, wie in anderen Strukturwandelgebieten?

RT: Etwas weniger dramatisch, lass uns nach vorne blicken: Was wir jetzt als erstes machen müssen, ist die Infrastruktur umfassend zu modernisieren und ein Mobilitätskonzept zu entwickeln, das kombinierte Mobilität ermöglicht. Die Mobilität muss im Großraumverbund mit den anliegenden Großstädten gedacht werden, dass man von den ländlichen Räumen gut in die Großstädte kommt usw. Die Mobilität hat sich ja auch durch Corona noch einmal stark verändert. Nicht unbedingt nötige Dienstreisen werden nicht durchgeführt oder über Online-Tools abgehalten, sodass man durch die geringere Fahrtzeit auch an Lebenszeit gewonnen hat und CO2 spart. Was wir zudem benötigen, ist eine Flächenpolitik, die verschiedenen Ansprüchen genügt. Das Rheinland ist eine Zuwanderungsregion. Wir stehen unter Bevölkerungsdruck. Zu uns ziehen Menschen aus weniger prosperierenden Regionen in NRW, Deutschland und Europa. Wir brauchen auch Flächen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Aber Fläche ist nicht vermehrbar. Daraus ergibt sich ein starker Flächennutzungskonflikt, da wir ja auch neue Flächen benötigen, auf denen Arbeitsplätze entstehen können, die unserem Nachhaltigkeitsverständnis entsprechen. Ich bin auch im Regionalrat in Düsseldorf tätig und Sprecher der SPD für Planungsfragen. Dort haben wir den Gedanken eingebracht, dass man Gewerbegebiete auch qualitativ entwickeln kann. Ich habe als Elektriker in einem Düsseldorfer Stahlwerk gearbeitet und konnte dort häufig beobachten, wie viel Leben um einen herum herrscht. Auf nahezu jedem Industriestandort gibt es Flächen, die beispielsweise als Abstandsflächen dienen und die dadurch ungenutzt bleiben. Dort kann sich eine Vielzahl an Tier- und Pflanzenarten ansiedeln, von denen sicherlich einige auch auf der roten Liste stehen. Dächer können begrünt oder mit Photovoltaik ausgestattet werden.

Ein gutes Beispiel ist der Hafen Rotterdam die „Maasvlakte“. Dort wurde ein neues Hafenbecken aufgeschüttet, sodass dort Schiffe mit über 22.000 Containern zum Beund Entladen anlegen können. Die Containerterminals sind so hinterlegt, dass die Krananlagen genau wissen, wo welcher Container herkommt, hin muss und was in diesem enthalten ist. Da läuft niemand mehr rum. In den Freiflächen rund um das Hafengelände wurden gezielt und erfolgreich gefährdete und geschützte Arten angesiedelt, da stören auch keine Touristen oder Passanten. Das heißt, wir brauchen nicht nur neue Gewerbe- und Wohnflächen, sondern müssen diese qualitativ entwickeln. Wir brauchen Konzepte, die qualitativ gutes Wohnen und Arbeiten verbinden. Vielleicht ist es möglich, dass Naturräume entstehen, die in Wohngebieten anfangen, in Grünzüge übergehen und bis in Gewerbegebiete hinein wachsen und sich vernetzen. Aus meiner Sicht benötigen wir zukünftig einen Beauftragten, der sich bei Neuentwicklungen von Gewerbe und Infrastrukturflächen und Siedlungsraum um soetwas kümmert. Vielleicht könnte man auch mit der RWTH mal schauen, wie sich solche Gebiete entwickeln lassen, z. B. hier bei uns, die das alles unter einen Hut bringen.

In keiner anderen Region in Deutschland haben wir so viele hoch renommierte Universitäten mit so vielfältigen Schwerpunkten, wie hier bei uns. Die Metropolregion Rheinland führt 64 Hochschulstandorte und zehn Excelent Cluster auf. Das führt aber zu einem weiteren Punkt: Der Anwendungsbereich aus Forschung und Entwicklung muss letztlich da stattfinden, wo der Strukturwandel greift, d.h. dort, wo Tagebaue und Kraftwerke und damit Arbeitsplätze wegfallen.

Strukturwandel hat auch immer etwas mit der Ressource „Kopf“ zu tun, also wie das benötigte Wissen auch in den Kopf kommt. Es gibt keine bewusste menschliche Tätigkeit, der nicht ein Gedanke vorausgeht. Und neue Strukturen erfordern neue Gedanken. Durch Bildung, beispielsweise in den Bereichen Ressourcen, Wirtschaft 4.0, Kreislaufwirtschaft, neue Energieanwendungen, neue Mobilität usw. muss das angelegt werden, was im Strukturwandel als Herausforderung auf uns zukommt. Wir benötigen zudem neue Anwendungs- und Geschäftsideen, die auch mit Informationstechnologien hinterlegt sind. Das Rheinische Revier soll ja weiter Energieregion bleiben, wir brauchen dafür neben den großen regionalen Akteuren auch neue Existenzgründer, die neue Ideen umsetzen, mit denen es dann weitergehen kann. Themen gibt es genug.

KK: Sehr spannend deine Aussagen, vor allem, was den Stellenwert angeht, Bildung und Potentiale der Region zu vernetzen. Ich habe den Eindruck, dass die Landesregierung eine zu hohe Priorität auf Direktinvestitionen legt und nicht auf Netzwerkbildung und Pflege, wie Du sie beschrieben hast. Da nutzen Direktinvestitionen nicht zwingend etwas, weil dadurch kein Wandel im Sinne des „Nachhaltigkeitsdreiecks“ angestoßen wird.

RT: Die Landesregierung denkt und handelt aus meiner Sicht zu sehr selbstbezogen. Es ist auch nicht so, dass die meisten Projekte, die jetzt in der Debatte sind oder angestoßen werden, Investitionsprojekte sind. Wir haben einen ganz wesentlichen Anteil von Projektideen in der ZRR, die aus meiner Sicht wissenschaftslastig sind und eher grundsätzliche Fragen stellen und zu wenig anwendungsorientiert sind oder Antworten geben. Die Landesregierung hat jetzt ja die ZRR als Steuerungsinstrument. Dort wird mit den Bezirksregierungen zusammengearbeitet und zudem sind die Landräte und Bürgermeister der 20 Kernkommunen vertreten. Die ZRR wird allerdings so gesteuert, dass nicht alle Ideen gefördert werden, sondern nach meinem Eindruck vor allen die, die aus Sicht von Schwarz-Gelb gewollt sind. Da haben wir ein Problem. Die SPD und die Gewerkschaften sagen z. B., dass hier ein Strukturwandel abläuft, der dazu führt, dass ein Industriesektor wegfällt und wir deshalb dafür sorgen müssen, dass wir weiter Industriestandort bleiben werden. Da bekommen wir durchaus Gegenwind. Das sieht man daran, wie über Projekte geguckt wird. Meine Kritik ist, dass die Impulse, die die Gewerkschaften und die SPD und die Anreinerkommunen setzen, nicht ausreichend ernst genommen werden, sondern eher aussitzen und ausbremsen sowie ihre eigene Agenda durchzudrücken im Vordergrund steht. Das ist mein Vorwurf. Das heißt nicht, dass alles falsch ist, was gemacht wird, aber es ist zu einseitig und nicht immer das, was wir wirklich brauchen.

KK: Ich gehe jetzt mit meinen Fragen noch einmal in eine etwas andere Richtung und würde gerne auf unsichere Beschäftigungsverhältnisse eingehen. Das ist ja jetzt auch bei Corona wahnsinnig aufgetaucht, bei vielen Menschen, die ihren Job verloren haben oder zum Beispiel unter prekärsten Bedingungen in der Fleischindustrie tätig waren. Ich würde gerne wissen: Inwieweit gefährden unsichere Beschäftigungsverhältnisse den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Frieden?

RT: Ja, das ist sehr deutlich geworden. Der Zusammenhang zu unserem Thema besteht darin, dass „gute Arbeit“ wegfällt. Für die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gibt es zwar ein Anpassungsgeld ( APG ), aber der Arbeitsplatz ist verloren.

Gute Arbeit heißt, dass sie tarifvertraglich geregelt und sozial so organisiert ist, dass man nicht davon krank wird, ordentliche Arbeitsbedingungen hat und von dem Verdienst seine Existenz bestreiten kann. Das „gute Arbeit“ wegfällt, ist aber nichts Neues. Wir sehen das z. B. in der Dienstleistungsbranche oder anderen Branchen mit vielen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Ich war im Landtag auch Sprecher für die SPD in der Enquetekommission „Zukunft des Handwerks NRW“. Das Handwerk ist ja nicht nur der fleißige Schornsteinfeger und der Zimmermann oder der, der die Autos und Motoren repariert. Das Handwerk besteht aus einem breit angelegten Branchenspektrum. In manchen wird heute schon zu wenig verdient im Vergleich zu dem, was man für eine gute Existenz bräuchte. Dort wird auch nicht für das Alter vorgesorgt. Wenn diese Beschäftigten, wenn sie in Rente gehen, alle ausschließlich von der gesetzlichen Rente leben, haben wir in wenigen Jahren eine Massen-Altersarmut, weil keine ergänzenden Betriebs- oder Branchenzusatzversorgungssysteme aufgebaut wurden. Zudem sind viele Jobs unsicher. Jemand der in der Gastronomie arbeitet weiß eventuell nicht, ob er morgen seinen Job noch hat, wenn beispielsweise so etwas wie Corona kommt. Oder die ganze Veranstalterbranche, die sehr fragil ist.

Im Herbst werden wir erleben, dass viele Firmen „durch Corona“ nicht mehr existieren. Auch das „Aussterben der Innenstädte“ wurde durch die Pandemie nochmals augenscheinlicher. Häufiger wurde jetzt „Online“ bestellt. Da ist es z.B so, dass wenn das Bestellte nicht gefällt oder defekt ist, kann es einfach zurückgeschickt werden. Das ist im realen Geschäft oft schwieriger. „Online Kaufen“ erweisst sich als attraktiv und wird sicher noch öfter genutzt werden. Amazon und Co. sind hier die Gewinner. Aber wie sieht es dahinter aus? Wir haben hier z. B. einen Dienstleister in Bereich Warenverteilung, der hatte ruck zuck gehäufte Corona-Fälle. Ebenso ein Betrieb mit Stahlhandel, da arbeiten viele Migranten und Ausländer, weil das eine Arbeit ist, die bei uns gar nicht nachgefragt wird und die keiner mehr machen will. Die Menschen dort arbeiten zu Bedingungen, für die man sich schämen muss, dass es das überhaupt bei uns gibt. Die Beschäftigten wohnen oft in Sammelunterkünften und verdienen nicht gut. Die Mitarbeiter arbeiten und leben eng zusammen, werden in Bussen hin und hergefahren. Durch die Corona-Fälle ist sichtbar geworden, dass es diese prekären Arbeitsverhältnisse unter so schlechten Bedingungen gibt, und wie viele Menschen in diesen Beschäftigungsverhältnissen sind.

Solche Arbeitsverhältnisse bestehen häufig auch in „neuen“ Branchen, weil da nicht so genau hingeschaut wird. Die konservativ-neoliberale Politik hat ja lange schon Tarifbindungen gezielt unterlaufen, Gewerkschaften bekämpft, einen Niedriglohnsektor entstehen lassen und den Versuch, Wirtschaft auch sozial zu organisieren, als geschäftsschädigend betrachtet. Ich befürchte, dass bei vielen neuen Geschäftsmodellen, die vorher als Geistesblitz aufleuchten, die Wirklichkeit in Bezug auf die Arbeitsbedingungen und die soziale Seite ernüchternd sein wird.

KK: Ich interpretiere deine Ausführungen, dass es im Rheinischen Revier doch Ansätze für einen harten Strukturwandel gibt, gegenüber dem, was wir haben wollen. Ich möchte das begründen: Du hast Arbeitsverhältnisse, Arbeitsbedingungen im Kohlebereich, auch im Braunkohlebereich, die eigentlich von einer großen Mitbestimmungskultur des sozialen Ausgleichs in der Vergangenheit geprägt waren. Auf der anderen Seite hast du die ganzen Deregulierten. Oder ist das als Theorie zu kopflastig?

RT: Wir blicken natürlich auf eine über 150 Jahre sich entwickelnde Industriegeschichte zurück. Die sozialen Standards in der Industrie heute haben mit den langen Sozialkämpfen zu tun. Eine wichtige Errungenschaft aus diesen Kämpfen ist die Mitbestimmung, im Revier ist das noch die Montanmitbestimmung mit starken Arbeitnehmer-Vertretungen auf Augenhöhe. Das ist ja dieser Gedanke, dass man Wirtschaft und Gesellschaft in die Hand nimmt und selbst verwaltet und gestaltet. Die Beteiligungsmodelle in der ZRR können das nicht erreichen, das sind mehr virtuelle und kreative Beteiligungsformen, sicher keine Formen der strukturellen Mitbestimmung oder Selbstverwaltung. Es fehlt zudem ganz klar eine gezielte Arbeitnehmerorientierung bei diesen Beteiligungsformaten.

KK: Zum Schluss habe ich eine Bitte an Dich. Formuliere doch bitte deine utopische Zukunftsversion für das Rheinische Revier. Wie könnte das in 10 bis 15 Jahren aussehen?

RT: Ich würde mir wünschen, dass wir noch besser erkennen, welche Zukunftspotentiale wir tatsächlich haben. Dass wir den Mix nutzen, den diese Region zu bieten hat. Die Lage innerhalb von Metropolregionen ist weltweit etwas Besonderes und gleichzeitig haben wir hier ländliche Räume und durch den Rückzug der Tagebaue große freiwerdende Landschaften, die es in der Nähe von solchen verdichteten Siedlungsräumen sonst nicht gibt. Das ergibt wahnsinnig spannende Chancen, den gesamten Raum neu zu denken. Aus den Tagebauen werden groß Seen entstehen, die gut vorbereitet werden müssen.

Wir haben z.B. schon 2017 als SPD das Thema „Neue STADT im Revier“ ins Regierungsprogramm aufgenommen. Der Siedlungsdruck im Rheinland braucht angemessene Antworten, also auch mal was Neues wagen und wo nicht sonst als hier in einer „neuen Stadt“, die ruhig mehrere Orte haben kann. Wo wir all das neue anpacken können beim Ausbau der Infrastruktur, beim Netzausbau und neuem Verkehr, neuen Wohnformen in einer Smart City, aber auch bei der Bildung, beim Klimaschutz usw. Dass die S- Bahn gebaut ist und man die Wissenschaftsstadt Aachen besser erreicht und vielleicht auch Belgien mit der Hafenstadt Antwerpen. Wissenschaft mit konkreten Anwendungen halte ich für sehr wichtig. Aber auch eine Weiterbildungsstruktur als vollwertige dritte Säule des Bildungssystems, um Umschulungen und lebenslanges Lernen systematisch und qualifiziert – zertifiziert – endlich zu ermöglichen, in einer „Weiterbildungsakademie“, warum nicht in Grevenbroich? Strukturwandel ist doch ein Dauerthema, auch jenseits der Energiewende. Damit verbunden ist doch ständige Weiterbildung. Bisher eher Privatsache oder bei Einführung von neuen Anwendungen im Betrieb, dann eben Anwendungsbezogen und nicht breit angelegt.

Mein Wunsch wäre, dass die ganz profanen Dinge, die eigentlich auf dem Tisch liegen, jetzt angepackt und umgesetzt werden. Die Utopie dabei wäre, dass dies nicht in den Eitelkeiten von Landräten im örtlichen Kirchturmdenken und in den Selbstbezogenheiten von landespolitischen Strukturen versandet und auch in Berlin wahrgenommen wird.

KK: Super Schlusswort.